Ein Abschied auf Raten ?

Weimarer Denkwürdigkeiten:
Henry van de Veldes Haus Hohe Pappeln


In einer nichtöffentlichen Sitzung hat der Stadtrat am 25. April mit knapper Mehrheit entschieden: Das Vorkaufsrecht der Stadt Weimar zum Erwerb des Hauses Hohe Pappeln wird nicht geltend gemacht. Damit sind vorerst alle Instrumentarien ausgeschöpft, den seit Mai 2000 drohenden Verkauf des Hauses in Privathand abzuwenden. Wieder einmal haben sich die Weimarer Stadträte selbst einer Chance entledigt. Ohne Not! Vielmehr aus dem Unvermögen einer eifersüchtigen Blockadepolitik gegen Kultur und Verwaltung. Leider auch aus Angst vor der Zukunft, aus der unberechtigten Sorge um eine künftige finanzielle Belastung der Kommune.

Im Laufe seines langen Lebens hat Henry van de Velde sich und seiner Familie mehrere Häuser errichtet. Dem Weimarer Wohnhaus von 1907/08 war ein erster, höchstes Aufsehen erregender Bau in Brüssel vorangegangen; weitere Häuser folgten nach der Vertreibung aus Weimar 1919 am Schweizer Ufer des Bodensees, danach in Holland, Ende der 20er Jahre wiederum in Brüssel und zuletzt 1947 erneut in der Schweiz. Alle Etappen dieser langen Lebensreise waren einem steten Auf und Ab spektakulärster Erfolge und tief verletzender Demütigungen gefolgt, und das eigene Wohnhaus wurde gerade in Weimar zum Refugium, zum Bollwerk gegen die giftige Ranküne einer mißliebigen Umwelt.
Mit seinem tief heruntergezogenen, den ganzen Baukörper dominierenden Mansarddach formulierte der Architekt in seinem Haus Hohe Pappeln sprechend und sehr anschaulich die Sehnsucht nach Distanz und Geborgenheit für sich und seine kinderreiche Familie. Auch wurde der Bauplatz bewußt am äußersten Stadtrand im damals noch nicht eingemeindeten Ehringsdorf gewählt und kündete vom Wunsch nach Abstand und der Nähe zur offenen Landschaft. Von entscheidender Bedeutung war außerdem der Zeitpunkt zum Entschluß des Hausbaues, nachdem sich die Familie zuvor mit Mietwohnungen be-gnügt hatte. Ohne ausreichendes Kapital, aber mit dem festen Willen nicht aufzugeben, beauftragte Henry van de Velde seine Frau just in den Tagen von Kesslers Abdankung im Juli 1906 mit der Suche nach einem geeigneten Baugelände. Durch die gehässigen Angriffe auf Harry Graf Kesslers Weimarer Kultur- und Ausstellungspolitik in höchstem Maße auch selbst Ziel dieser verleumderischen Fronde, hatte er sich zunächst im Schwarzatal in eine Jagdhütte der Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt zurückgezogen. Für den selbstbewußten, seiner prophetischen Mission lebenden Künstler galt jedoch im Gegensatz zu Kessler die trotzige Parole: Jetzt erst recht!, und der Bau des eigenen Hauses mußte diese Haltung in programmatische Formen umsetzen.
Die nach außen hin eher spröde Haltung des Gebäudes löst sich zwar im Inneren zugunsten heiterer Harmonie auf, erschwert jedoch den spontanen Zugang des Betrachters zur Architektur van de Veldes. Sowohl auf die Bedürfnisse einer siebenköpfigen Familie als auch auf die Pflichten gelegentlicher Festlichkeit zugeschnitten, ist das stattliche Raumvolumen innerhalb der vier Ebenen vom Souterrain bis zum Dachboden raffiniert aufgeteilt und weist mit einer Nutzfläche von rund 400 qm weitaus mehr Raum auf, als dies zunächst den Anschein hat. Der Künstler hat sein Haus den Anforderungen entsprechend von den inneren Notwendigkeiten her zum Außenraum hin entwickelt, was an den vielfach gebrochenen Fassaden des Hauses deutlich ablesbar wird. Die äußere Form hat nicht die Aufgabe zu repräsentieren. Haltung ist gefragt, Aristokratie der Moderne und selbstbewußte Würde. Gelebt wird im Haus und im üppigen Garten, dessen ausgewogene Nutz- und Zierbereiche sich auf die vielfältigen Übergänge beziehen, die Haus Hohe Pappeln dem Außenraum darzubieten weiß.
Das Weimarer Wohnhaus Henry van de Veldes ist jedoch mehr als nur der Lebensraum eines großen Künstlers. Das Haus ist eine in Stein und Mörtel gefügte Manifestation der Mission des Belgiers, mit Hilfe der sinnlich anthropomorphen Mittel seines Neuen Stils der Baukunst, dem Wohn-umfeld Schönheit und Lebensfreude zurückzuerobern. Mit dem Entwurf seines eigenen Hauses hat er nach dem spektakulären Umbau des Nietzsche-Archives die reifste Leistung dieser Epoche abgeliefert. Wenige Jahre später war die ursprüngliche Kraft des Universalkünstlers vorerst aufgezehrt.
Henry van de Velde hat mit seinem ganzheitlichen Ansatz in der Lehre wie in seinem künstlerischen Ausdruck den Nährboden seiner Nachfolger im Bauhaus gelegt und konnte sich als fast 100jähriger Greis in der Abgeschiedenheit der Schweizer Bergwelt zurecht als Mitbegründer der Moderne und einer der Väter des Bauhauses fühlen. Weimar hat ihm dies kaum gedankt: im Gegenteil. Nach dem Ausbruch des ersten Stahlgewitters über Europa wurde er als feindlicher Ausländer über Jahre schikaniert. Nach dem Krieg galt er dann plötzlich wieder als früherer Staatsbeamter, den man weiter drangsalierte. Mit dem schweren Entschluß, zunächst in der Schweiz, später in Holland einen dritten bzw. vierten Neuanfang zu wagen, war die Notwendigkeit verbunden, das geliebte Weimarer Haus zu veräußern. Der 1919 ausgehandelte Kaufpreis, durch die Inflation in kurzer Zeit auf ein schmales Entgelt vermindert, wurde von den Behörden zudem wegen angeblicher Steuerschulden beschlagnahmt, so daß van de Velde 1923 schließlich leer ausging und obendrein die Kosten für den jahrelangen Rechtsstreit aufzubringen hatte.
Nach zwei Besitzerwechseln erwarb 1938 die Landeskirche Haus Hohe Pappeln als Dienstsitz für Siegfried Leffler, den Führer der Deutschen Christen: auch dies ein trauriges Kapitel sowohl für das Gebäude wie für die dunklen und bis heute wenig beleuchteten Schattenseiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Dritten Reich. Daß die Liegenschaft nach 1945 das übliche Schicksal großer Häuser in der ehemaligen DDR zu teilen hatte, verwundert dagegen kaum. Bei einer Belegung des Hauses mit bis zu zwanzig Personen war die Bausubstanz in den Jahren der Wende an ihr Ende gelangt. Von mehr als 50 dunklen Fichten förmlich umwaldet, versank das Haus in einen Dornrös-chenschlaf, ehe es in den Jahren von 1991 bis 1995 durch umfassende Sanierungsmaßnahmen wieder wachgeküßt werden konnte. Der herausragenden Bedeutung entsprechend, flossen beträchtliche Mittel in die Rekonstruktion, die sich in der Summe auf rund 1,7 Mio. DM addierten.
Den Wünschen der Zuwendungsgeber, der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege entsprechend, wurde durch die Landeskirche 1993 ein Förderverein mitinitiiert, der bislang die kontinuierliche Öffnung des Hauses gewährleistete. Mehr als 20000 Besucher zählte das Haus allein 1999, und selbst nach den Einschränkungen und Querelen um den Verkauf kamen auch im letzten Jahr noch rund 10000 Interessenten. Nachdem die Kirche aufgrund der Vorgaben des Kaufvertrages das Haus zum 31. Mai zwangsgeräumt hat, ist es nicht nur für den Verein, sondern auch für die interessierte Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Das weitere Schicksal ist offen. Signalisierte in der Zwischenzeit der erste Käufer seine Bereitschaft, den Vertrag wieder zu lösen, so führt die Kirche parallel jedoch erneut Verhandlungen mit Kaufinteressenten. Der Förderverein des Hauses und der sehr engagiert mitkämpfende Freundeskreis Weimar 99 bzw. die Stadt bleiben hierbei jedoch außen vor. Das bisherige Verhalten der Kirche kann nur befremden und muß zudem als unmoralisches Herumtaktieren gewertet werden - dies auch angesichts der Tatsache, daß der Kaufpreis von 1 Mio. DM bereits in der Vergangenheit durch die Steuergelder der Sanierung mehr als abgedeckt wurde.
Das Kulturstadtjahr hat 1999 ein Fenster aufgestoßen und die Stadt wieder der Moderne geöffnet. Hier gilt es im Hinblick auf künftige Entwicklungen im Tourismus neben der Klassik neue Schwerpunkte von Nietzsche über Kessler, van de Velde und das Weimarer Bauhaus bis in die Gegenwart zu setzen. Neben Muches Haus Am Horn stellt Haus Hohe Pappeln die einzig überregional bedeutende Ikone der Moderne dar, die Weimar neben Henry van de Veldes Kunstschulbauten, den heutigen Hauptgebäuden der Bauhaus-Universität, aufzuweisen hat. Die Stadt hat leider das falsche Signal gesetzt. Nicht Mißtrauen und zögerliches Taktieren, sondern Vertrauen, Optimismus und Zuversicht in bürgerschaftliches Engagement sind hier mehr denn je gefragt, will sich Weimar auch künftig noch als offene Kulturstadt von europäischem Format darstellen.

Thomas Föhl