Mimikry

Interview mit Hellmut Seemann, Künstlerischer Leiter des Kunstfestes 2003

Haben Sie bei Ihrem Antritt als Präsident der Stiftung Weimarer Klassik vor anderthalb Jahren geahnt, dass Sie eines Tages ein Kunstfest in Weimar leiten würden?
Nein, mit Sicherheit nicht. Beschäftigt hat mich das Kunstfest aber schon bald. Und ich habe gleich gesagt, dass man, um ein Kunstfest seriös vorzubereiten, ein Jahr Vorlauf braucht. Tatsächlich haben wir aber etwa ein Jahr gebraucht, um mit dem künstlerischen Beirat eine Lösung für die Zukunft des Kunstfestes zu finden. Der wichtigste Erfolg des vergangenen Jahres ist, Nike Wagner für die künstlerische Arbeit der Jahre 2004 und 2005 (mit der Option für 2006/07) gewonnen zu haben. Mit der Entscheidung für Nike Wagner war klar, dass sie 2003 noch nicht zur Verfügung steht. In dieser Situation hat sich der künstlerische Beirat der Verantwortung gestellt und mich gebeten, die Leitung des diesjährigen Kunstfestes zu übernehmen.

Ist es schwieriger oder leichter, nur für ein Übergangsjahr verantwortlich zu sein?
Man muss das Interim nicht als Hypothek sehen, es kann auch ein besonderer Reiz sein, man kann es auch zum Thema machen. Betrachtet man es von der Seite der Risiken oder des Prestiges, kann man sicher nur sagen, es ist schwieriger oder undankbarer. Neun Monate Vorbereitungszeit sind nicht viel. Wenn man es aber als eine Zumutung betrachtet, der man sich nicht entziehen kann, dann kann darin auch eine besondere Freiheit liegen. So habe ich das jetzt für mich definiert: Ich bin sehr frei in der Gestaltung, weil ich keine Rücksicht darauf nehmen muss, was es, sagen wir, für mein drittes Kunstfest bedeutete, wenn ich im ersten dies oder jenes tue ...

Ist es für Sie persönlich mehr Pflicht oder mehr Neigung?
Nach der Kantischen Grundlegung ist es ideal, wenn aus einer Pflicht eine Neigung wird. So würde ich es auch für mich beschreiben. Es war eine Pflicht für mich, in der Situation nicht zu sagen, lasst andere ihre Köpfe hinhalten. Inzwischen ist daraus aber eine Neigung geworden. Es macht einfach Spaß, ein Kunstfest vorzubereiten, mit Künstlern, Kollegen, Freunden zusammenzuarbeiten und zu spüren, wie man diese Stadt dazu ermutigen kann, sich auf das Kunstfest einzulassen.

Nicht für jeden ist es selbstverständlich, dass es in Zeiten knapper Kassen unbedingt ein Weimarer Kunstfest geben muss ...
Für Weimar ist das Kunstfest im schlimmsten Falle ein Nullsummenspiel und im besten Falle ein echtes Profitcenter der Stadt. Denn man muss als Rahmen der Veranstaltung im Kopf behalten, dass der Bund ab 2003 zugesagt hat, sofern die Stadt zu ihrem Anteil von 250000 € steht, diese Summe zu verdoppeln. Insgesamt betragen die Zuschüsse aus öffentlicher Hand 1,15 Mio €. Das Budget wird, wenn alles gut läuft, ca. 1,5 Mio € umfassen; daran ist Weimar mit einem Sechstel beteiligt, zugleich aber der alleinige Nutznießer. Denn Menschen, die des Kunstfestes wegen in diese Stadt kommen, werden in Weimar übernachten, essen, also Effekte generieren, die auch in finanzieller Hinsicht Weimar zugute kommen.
Es wäre ein Schnitt ins eigene Fleisch gewesen, wenn Weimar gesagt hätte, wir sind in einer so dramatischen Lage, dass wir diese 250000 € nicht aufbringen können. Das Kunstfest kann aufgrund der Finanzierung, an der Bund und Land in so hohem Maße beteiligt sind, mit anderen Aktivitäten nicht verglichen werden, die die Stadt allein finanziert und auf die sie angesichts ihrer Finanzlage künftig möglicherweise verzichten muss. Das ist ein Unterschied, den man nicht verwischen sollte, auch wenn es schwer fällt, in Zeiten, wo alle eigentlich zu wenig haben, etwas zu tun, wozu man nicht gezwungen ist.

Noch einmal zum Budget. Die Differenz zwischen 1,15 und 1,5 Mio € wollen Sie durch Einnahmen erwirtschaften?
Wir wollen möglichst hohe Einnahmen erwirtschaften und hoffen auf Sponsoren, auch wenn dafür sowohl die allgemeine wirtschaftliche Lage als auch die Zeitstellung, in der wir das Kunstfest vorbereiten, nicht gerade günstig sind. Wenn wir nur mit den Zuwendungen und eigenen Einnahmen rechnen können, wird das Budget etwa 1,4 Mio € umfassen.
Wir wollen günstigere Preise anbieten als 2002. Unser Ziel ist es, junge Leute aus Weimar und Umgebung ans Kunstfest zu binden. Und das funktioniert nur, wenn man die Preise differenziert gestaltet. Auch die teuersten Karten für Veranstaltungen in der Halle sollen nicht teurer sein als Karten für das DNT. Die Besucherzahl hoffen wir steigern zu können. Das Kunstfest 2002 hatte 16000 Besucher, wir erwarten 20000.

Uns erwartet ein Wechsel des Ortes: Mehrzweckhalle statt Viehauktionshalle?
Wechsel des Ortes heißt ja nur Wechsel der Hauptspielstätte für 2003. Die Halle, wie wir das Mehrzweckgebäude nennen, wird nur im Jahr 2003 zur Verfügung stehen. Gerade das ist für mich ein besonderer Reiz des Ortes, der in den letzten Jahren nicht mehr genutzt wurde und bereits 2004 ein Welcome-Center für Gäste Weimars sein wird. Das macht die Halle zur Halle eben dieses Jahres 2003! Das entspricht unserer Situation des Übergangs. Diese Chance musste man nutzen. Zumal die Halle gegenüber der Vieh-auktionshalle zwei große Vorteile bietet: die zentrale Lage und die größere Kapazität. Wir können dort, wenn wir es denn schaffen, Auditorien bis zu 1500 Menschen einladen, und wir haben die Besucher dann mitten in der Stadt. Das unmittelbare Umfeld der Halle, der Weimarplatz, ist eine Baustelle. Im weiteren Umfeld werden wir Angebote machen, um die Zuschauer ein bißchen in Weimar zu halten. Ich erhoffe mir davon eine stärkere Belebung der Innenstadt. Und die ganz besondere Atmosphäre, die ein Festival braucht.

Wie wollen Sie diese Atmosphäre herstellen?
Der wichtigste Ort, den die Besucher anstreben können, ist das Spiegelzelt auf dem Burgplatz. Dort wird es vor und nach den Veranstaltungen alles geben, was zu einem Kunstfest gehört: Treffpunkte, Informationen, Tickets und auch kleine Aktionen. Mindestens genauso wichtig ist mir der Ilm-Park. Er soll das komplementäre Pendant zu der in gewisser Weise ja monströsen Halle sein, mit der seit Adolf Hitlers Plänen für ein Gauforum in Weimar niemand so richtig umgehen konnte. Wir nutzen sie für etwas, wofür sie nie und nimmer vorgesehen war, nämlich für innovative Kulturereignisse. Auf der anderen Seite versuchen wir sie in Beziehung zu setzen zum Ilm-Park, der eine wunderbare Spiegelung des klassischen Weimar und damit eines humanistischen Lebensentwurfs ist. Dazu steht am Rande des Parkes das Spiegelzelt. Aber auch das Römische Haus mit den Italienischen Nächten, der Kubus mit literarischen Programmen und vieles andere mehr gehören dazu.
Wenn man die große Halle und die vielen kleinen Veranstaltungsorte am und im Park als zusammengehörig versteht, dann, so glaube ich, wird sich hier eine ganz weimarspezifische Festival-Atmosphäre einstellen.

Aber zurück zum Programm. Auch hier ein neuer Schwerpunkt und ein neues Motto?
Über dem Kunstfest steht der Begriff der Mimikry. Das ist ein Begriff aus der Biologie. Er bezeichnet die Strategie von Tieren, sich als stärker und damit für Angreifer gefährlicher zu stellen, als sie tatsächlich sind. Ausgangspunkt für unser Verständnis des Begriffs war die Geschichte der Buchenwald-Tiger, einer Jazz-Formation, die sich in den Tagen der Befreiung des Konzentrationslagers bildete. Die ehemaligen Häftlinge haben das Symbol der Schwäche, nämlich ihre blau-weiß gestreiften Anzüge, umdefiniert in eine Position der Stärke, indem sie sich Buchenwald-Tiger nannten und nun mit schwarz-gelben Streifen auftraten.
Mimikry dazu gehört unser Symboltier: ein getigertes Zebra. Das scheint mir ein passendes Symbol für unsere Hauptspielstätte, aber auch für unsere Kultur schlechthin, die Mimikry begeht, indem sie uns auch in schwierigen Zeiten ermutigt. So ist auch unser Programm, das auf die Geschichte des Ortes eingeht, nicht nur problemgeladen, sondern auch heiter. Dafür steht ein Programmpunkt wie Udo Lindenbergs Revue Atlantic Affairs, in der es darum geht, dass man sich, was man verloren hat, auf melancholisch-heitere Weise wieder aneignet. Das ist die Stimmung, die ich mir für das Kunstfest erhoffe. Auch die Eröffnung am 23. August ist so angelegt. Wir planen dafür ein großes Percussion-Projekt in der Halle, das mehrmals am Abend abläuft, so dass viele Besucher es erleben können. Diese gewaltige akustische Performance wird manchmal unterbrochen von kleinen, ganz anderen Aktionen, die auf das Zerbrechliche der Kultur verweisen. Genau das meint das getigerte Zebra.

Im Mittelpunkt des Programms stehen Musikereignisse?
Ja, die schon erwähnte Eröffnung, die Udo-Lindenberg-Revue und die Veranstaltungen an den Wochenenden werden musikalische Höhepunkte sein. Es wird Berlioz Requiem mit der auf das Doppelte verstärkten Weimarer Staatskapelle unter Leitung Jac van Steens aufgeführt und Bachs Matthäuspassion von der Klangverwaltung München unter Leitung von Enoch zu Guttenberg.
Eine Produktion wie das Requiem mit 300 Künstlern kann man in Weimar wohl nur an einem Ort wie der Halle in Szene setzen, schon wegen der räumlichen Voraussetzungen. So werden nicht weniger als drei Nebenbühnen gebraucht. Wir haben das Berliozjahr, wir haben eine Halle, in der es gut ist, ein Requiem aufzuführen, denn es geht ja auch immer um das Gedenken an diesem Ort. Es ist eine riesige Herausforderung, in erster Linie für die Staatskapelle, aber auch für unseren Etat. Berlioz wird der fulminante Schlußakkord des Kunstfestes am 13./14. September sein.
Die Matthäuspassion in der Halle zu spielen, darauf wäre ich nicht gekommen, es war der Vorschlag von Enoch zu Guttenberg. Für mich war die Vorstellung zunächst fast schockierend, doch je länger ich darüber nachdachte, desto schlüssiger wurde es für mich, das gewaltige Werk unseres größten Komponisten gerade hier aufzuführen. Damit wird im Weimarer Bachjahr 2003, denn vor 300 Jahren kam Johann Sebastian Bach nach Weimar, ein wichtiger Akzent gesetzt. Die Matthäuspassion eröffnet am 31. August das Bach-Programm des Kunstfestes, das mit einer Vielzahl von Veranstaltungen weitergeführt wird, die von der Hochschule für Musik organisiert werden.
Es ist überhaupt ein großer Vorzug des Kunstfestes 2003, dass die großen Kulturinstitute Weimars unmittelbar in die Programmgestaltung einbezogen sind und eigene Beauftragte für die in ihrer Regie vorzubereitenden Veranstaltungen benannt haben.

Wie steht es um die Akustik in der Halle?
Die Akustik ist nicht die eines Konzertsaales. Wir haben im Moment noch keine endgültigen Erkenntnisse, die Akustik betreffend, da sie sich nach der Schließung der Fenster, durch Einbauten wie die Bühne etc. noch ändern wird. Es ist ein Risiko, aber ich denke, ein Kunstfest braucht solche Risiken. Man wird die Matthäuspassion hier ganz anders hören als in einer Kirche, aber sie wird sich in der Halle behaupten. Darum geht es bei einem solchen Ereignis.

Was hat Sie bewogen, den Schwerpunkt der Programmgestaltung auf die Musik zu legen - eine Linie, die Nike Wagner fortsetzen will?
Das Kunstfest muss ein Konzept verfolgen, das Menschen, die nach Thüringen kommen, nach Weimar zieht. Es kann sich nicht darauf beschränken, ein Defizit auszugleichen, das es in Weimar und Thüringen zweifellos gibt, wo man die Entwicklung des modernen Tanztheaters nur unzureichend verfolgen konnte. Daran, dieses Defizit abzubauen, arbeitet das DNT mit den nunmehr 3. Internationalen Tanztheatertagen erfolgreich. Im Kunstfest wird der Tanz eine Rolle spielen als eine der Gattungen, die zu einem Fest der Künste gehören. Es wird zwei Tanzdarbietungen in der Halle geben.
Im übrigen fände ich es falsch, das Kunstfest 2003 zu einem Musikfest zu deklarieren. Weimar war zwar seit Bach immer eine Musikstadt, aber es ist im Unterschied zu Salzburg oder Bayreuth deutlich mehr. Ein Musikprogramm in Weimar muß in größere Zusammenhänge gestellt werden. Ich hoffe, dass uns das gelingt, und bin auch sicher, dass das die eigentliche Anknüpfung ist, die Nike Wagner in der Figur von Franz Liszt sucht (siehe auch S. 5).

Welche Rolle spielen die Genien des Ortes, z.B. Herder?
Wir haben ein Herderjahr, und eine Reihe von Veranstaltungen wie eine Ausstellung in der Herderkirche werden ins Kunstfestprogramm einbezogen.

Welche Ausstellungen erwarten uns darüber hinaus?
Wir zeigen die bisher umfassendste Präsentation der Cranach-Presse im Neuen Museum Weimar. Harry Graf Kessler ist als Buchkünstler international so bekannt, dass die Ausstellung, die John Dieter Brinks kuratiert, auch in den Niederlanden, in England und den USA gezeigt werden wird.
Die von Hermann Mildenberger vorbereitete Ausstellung Picasso und Arcadia im Schillermuseum wird Picasso-Blätter zeigen, die mit Werken des Weimarer Klassizismus und mit Arbeiten von Ingres konfrontiert werden.
Ich hoffe, dass wir trotz aller Probleme um die Kunsthalle auch dort ausstellen können. Hier soll das politische Werk Alfred Ahners, kuratiert durch die Gedenkstätte Buchenwald, gezeigt werden.

Das Gespräch führte Gabriele Drews

Kunstfestbüro im Weimarer Schloss
Geschäftsführung: Marcella von Uthmann
Organisation: Dunja Funke
Tel: 03643/54 51 53, Fax: 03643/20 21 74,
e-mail:[email protected]
Tickets: Touristinformation Weimar 03643/24 00 24
Website: www.kunstfest.de